Einander Würde geben

Es gibt so schöne Weihnachtslieder, und jedes ist mir lieb und wert. Ohne „O du fröhliche“ kann ich mir Weihnachten nicht denken, und auch „Stille Nacht, heilige Nacht“ gehört irgendwie dazu. Aber gefragt nach meinem liebsten Weihnachtslied fällt die Antwort mir leicht: Es ist „Ich steh an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhard.

Es ist so schön sinnlich – wie Weihnachten! „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen. Und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen“ – das Lied versetzt mich mit meinen Sinnen und Gedanken in den Stall von Bethlehem. Ich kann mit Paul Gerhard an der Krippe stehen, und alles, was mein Leben ausmacht, alles, was mich bewegt, alles, was mich sorgt, das bringe ich mit.

So bin ich da – mitten im Stall an der Krippe bei Maria und Josef. An der Seite der Hirten und der heiligen drei Könige beuge ich mich über die Krippe – sehend, staunend, anbetend. Erfüllt von „siehe, ich verkündige euch große Freude“.

Diese Szene im Stall ist für mich das Urbild der Zuwendung und des Hinsehens, der Anbetung und der Ehrfurcht, des Staunens und der Freude. Nichts brauchen wir dringender als das.

Denn stellen Sie sich vor, wir würden einander so begegnen: voller Ehrfurcht und Respekt, voll des Staunens und der Freude aneinander. Dann gäbe es keine niederträchtigen Herablassungen und keine Gleichgültigkeit, keine menschenverachtende Abgrenzung und kein „was gehen mich die anderen an?“.
Maria und Josef, die Hirten und die heiligen drei Könige bestaunten das Kind, klein und schwach, aber voller Lebendigkeit. Ein Haufen Elend, doch auch ein Bündel Hoffnung.
Stellen sie sich vor, wir würden allem Elenden und Schwachen, allem Kleinen und Zerbrechlichen in unserem Leben so begegnen: staunend, wertschätzend, erwartungsvoll, verheißungsvoll. Wir würden etwas erfahren von dem „Frieden auf Erden“ und dem Frieden mit uns selbst.

Es ist ein sehr würdiger Moment, der in dem Lied von Paul-Gerhard beschrieben wird. Er gibt dem Leben Würde. Dem Leben des kleinen Kindes und derer, die „sonst keine Herberge“ haben. Dem Leben der Hirten, die arm und verachtet sind genauso wie dem Leben der Könige und Menschen, die auf der Suche sind.

Er gibt meinem Leben Würde. Denn Paul Gerhard schreibt: „So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“ – wie schön!
Ich wünsche Ihnen zu Weihnachten Momente der Stille, des Staunens und der Anbetung. Und dass Sie dann weiter und ins kommende Jahr gehen können mit neuer Kraft und Inspiration.

Ihr Propst
Jürgen Jessen-Thiesen